Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, zu berücksichtigen, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Eine Behinderung liegt vor, wenn das Kind körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen hat, die es in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
Zu einer Behinderung können auch Suchtkrankheiten (z. B. Drogenabhängigkeit, Alkoholismus) führen. Nicht zu den Behinderungen zählen Krankheiten, deren Verlauf sich auf eine im Voraus abschätzbare Dauer beschränkt, insbesondere akute Erkrankungen.
Das Kind muss nach den Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Dem Kind muss es objektiv unmöglich sein, seinen gesamten notwendigen Lebensbedarf durch eigene Mittel zu decken. Ist das Kind trotz seiner Behinderung in der Lage, z. B. aufgrund eines hohen verfügbaren Einkommens, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, besteht kein Anspruch auf Kindergeld.
Die Behinderung selbst muss zwar vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sein, nicht jedoch die Ursächlichkeit oder Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten.
Tipp: Für Kinder, die wegen einer vor dem 1.1.2007 in der Zeit ab der Vollendung des 25. Lebensjahres und vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretenen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, ist weiterhin die bis zum 31.12.2006 geltende Altersgrenze des vollendeten 27. Lebensjahres anzuwenden.
Nachweis der Behinderung
Den Nachweis einer Behinderung kann der Berechtigte erbringen:
- bei einer Behinderung, deren Grad auf mindestens 50 festgestellt ist, durch einen so genannten Behinderten-Ausweis oder durch einen Bescheid der zuständigen Behörde,
- bei einer Behinderung, deren Grad auf weniger als 50, aber mindestens 20 festgestellt ist, durch eine Bescheinigung der zuständigen Behörde oder – wenn dem Kind wegen seiner Behinderung nach den gesetzlichen Vorschriften Renten oder andere laufende Bezüge zustehen – durch den Rentenbescheid oder einen entsprechenden Bescheid,
- bei einer Einstufung in den Pflegegrad 4 oder 5 oder diesem entsprechenden Bestimmungen durch den entsprechenden Bescheid.
Der Nachweis der Behinderung kann auch in Form einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder eines ärztlichen Gutachtens erbracht werden. Aus der Bescheinigung bzw. dem Gutachten muss Folgendes hervorgehen:
- Vorliegen der Behinderung,
- Beginn der Behinderung, soweit das Kind das 25. Lebensjahr vollendet hat, und
- Auswirkungen der Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit des Kindes.
Ursächlichkeit der Behinderung
Die Behinderung muss ursächlich für die Unfähigkeit des Kindes sein, sich selbst zu unterhalten. Allein die Feststellung eines sehr hohen Grad der Behinderung (GdB) rechtfertigt die Annahme der Ursächlichkeit nicht.
Die Ursächlichkeit ist anzunehmen, wenn:
- das Kind in einer Werkstatt für behinderte Menschen oder in einer Tagesförderstätte betreut wird,
- das Kind vollstationär in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung untergebracht ist,
- Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bezogen werden,
- der GdB 50 oder mehr beträgt und das Kind für einen Beruf ausgebildet wird,
- im Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch das Merkmal „H“ (hilflos) eingetragen oder im Feststellungsbescheid festgestellt ist, dass die Voraussetzungen für das Merkmal „H“ (hilflos) vorliegen, oder
- eine volle Erwerbsminderungsrente gegenüber dem Kind bewilligt ist oder eine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt ist.
Dem Merkzeichen „H“ (hilflos) steht die Einstufung in die Pflegegrade 4 oder 5 oder diesem entsprechenden Bestimmungen gleich. Die Einstufung als schwerstpflegebedürftig ist durch Vorlage des entsprechenden Bescheides nachzuweisen.
Wird zur Feststellung der Ursächlichkeit eine Bescheinigung des behandelnden Arztes beigebracht, muss aus dieser hervorgehen, in welchem zeitlichen Umfang das Kind aufgrund seiner Behinderung in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.
Tipp: Die Behinderung muss nicht die einzige Ursache dafür sein, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Eine Mitursächlichkeit ist ausreichend, wenn ihr nach den Gesamtumständen des Einzelfalls erhebliche Bedeutung zukommt.
Die Prüfung der Mitursächlichkeit kommt in den Fällen zum Tragen, in denen das Kind grundsätzlich in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben (d. h. eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung), die Behinderung der Vermittlung einer Arbeitsstelle jedoch entgegensteht. Eine allgemein ungünstige Situation auf dem Arbeitsmarkt oder andere Umstände (z. B. mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten), die zur Arbeitslosigkeit des Kindes führen, begründen hingegen keine Berücksichtigung.
Tipp: Auch wenn das Kind erwerbstätig ist, kann die Behinderung mitursächlich sein. Ist das Kind trotz seiner Erwerbstätigkeit nicht in der Lage, seinen notwendigen Lebensbedarf zu bestreiten, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt mitursächlich ist.
Außerstande sein, sich selbst zu unterhalten
Bei Kindern mit Behinderung ist grundsätzlich der notwendige Lebensbedarf den kindeseigenen Mitteln gegenüberzustellen. Übersteigen die kindeseigenen Mittel nicht den notwendigen Lebensbedarf, ist das Kind außerstande, sich selbst zu unterhalten. Falls die kindeseigenen Mittel den notwendigen Lebensbedarf überschreiten und ungleichmäßig zufließen (z. B. durch eine Nachzahlung oder die erstmalige Zahlung einer Rente), ist zu prüfen, ab welchem vollen Monat das Kind in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten.
Der notwendige Lebensbedarf des Kindes mit Behinderung setzt sich aus dem allgemeinen Lebensbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Als allgemeiner Lebensbedarf ist der Grundfreibetrag in Höhe von 9.984 Euro (2022) bzw. 9.744 Euro (2021) anzusetzen.
Tipp: Die kindeseigenen Mittel setzen sich aus dem verfügbaren Nettoeinkommen und sämtlichen Leistungen Dritter zusammen. Das Vermögen des Kindes gehört nicht zu den kindeseigenen Mitteln.
Übersteigen die kindeseigenen Mittel nicht den allgemeinen Lebensbedarf, ist davon auszugehen, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z. B. Aufwendungen für die Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, für die Pflege sowie für einen erhöhten Wäschebedarf. Sofern kein Einzelnachweis erfolgt, bemisst sich der behinderungsbedingte Mehrbedarf grundsätzlich in Anlehnung an den Pauschbetrag für behinderte Menschen.
Zu berücksichtigen sind darüber hinaus alle übrigen durch die Behinderung bedingten Aufwendungen wie z. B. Operationskosten und Heilbehandlungen, Kuren, Arzt- und Arzneikosten, soweit sie nicht von der Krankenkasse bzw. einer Krankenversicherung getragen werden.
Tipp: Für Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste Fahrten wird eine jährliche Pauschale von 900 Euro berücksichtigt, wenn ein GdB von mindestens 80 oder ein GdB von mindestens 70 und das Merkzeichen „G“ (gehbehindert) vorliegt. Liegt das Merkzeichen „aG“ (außergewöhnlich gehbehindert), „Bl“ (blind), „TBl“ (taubblind) oder „H“ (hilflos) vor, beträgt die jährliche Pauschale 4.500 Euro.
Verfügbares Nettoeinkommen
Für die Ermittlung des verfügbaren Nettoeinkommens ist zunächst die Summe zu bilden aus
- steuerpflichtigen Einkünften,
- steuerfreien Einnahmen,
- Kapitalerträgen ohne Abzug des Sparer-Pauschbetrags und
- Erstattungen von Steuern vom Einkommen (Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer einschließlich Abgeltungsteuer, Kirchensteuer, Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag).
Davon sind abzuziehen:
- unvermeidbare Vorsorgeaufwendungen (Beiträge zur Basiskranken- und Pflegeversicherung und andere Sozialversicherungsbeiträge sowie Zuzahlungen),
- tatsächlich gezahlte Steuern vom Einkommen (Steuervorauszahlungen, -nachzahlungen, -abzugsbeträge).
Die Berechnung des verfügbaren Nettoeinkommens ist bei Selbständigen auf der Grundlage eines Dreijahreszeitraums vorzunehmen.
Tipp: Von den steuerfreien Einnahmen ist – maximal bis zur Höhe der steuerfreien Einnahmen – eine Kostenpauschale von insgesamt 180 Euro im Kalenderjahr abzuziehen, wenn nicht höhere Aufwendungen, die im Zusammenhang mit dem Zufluss der steuerfreien Einnahmen stehen, nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden (z. B. Kosten eines Rechtsstreits zur Erlangung der steuerfreien Einnahmen).